19.Mai 1997

An meine kleine Gia

 

Wenn du diesen Brief liest, bedeutet das, dass du jetzt eine fast erwachsene, junge Frau bist und ich dich wohl nicht mehr 'meine Kleine' nennen sollte.
Das bedeutet aber auch, dass dein Pa und ich tot sind, denn nur in diesem Fall wirst du den Brief erhalten... Ich hoffe und bete, das es dir trotzdem gut geht.
Es gibt ein paar Dinge, die ich dir unbedingt erzählen muss, wenn du älter wirst. Jetzt, mit fast 7, bist du zwar schon sehr verständig und vorlaut, aber es wäre einfach zu früh, dich damit zu belasten. Ich möchte, das du eine möglichst schöne und lange Kindheit und Jugend hast. Sie wird früher zu Ende sein, als uns allen Recht ist.

Ich denke, du weiß inzwischen wer du bist, und vor allem was du bist. Jo wird dich informiert haben, oder jemand anderes, der sich deiner angenommen hat. Du gehört zu den Garou, entweder als Blutsgeschwister, oder als Garou und ich bin mir sicher, dass du eine umsichtige Kriegerin sein wirst .. mit einer sehr großen, vorlauten Klappe, die du hoffentlich gelernt hast, nur dann aufzureissen, wenn es sich auch empfiehlt. Aber wie ich dich kenne .. schlitterst du von einem Ärger in den nächsten. Lerne daraus. Jaja, alle sagen, es ist noch zu früh, um zu sagen, das du Garou wirst .. lass sie reden, ich weiß es einfach ;)

Vielleicht hast du dich ja schon für einen Stamm entschieden, oder bist vielleicht sogar schon festes Mitglied, hoffentlich bei den Furien ;)

Falls es dich interessiert... Ich bin Kinfolk der Furien, dein Pa ist Kinfolk der Fianna. Und deine Mutter gehört ebenfalls zu den schwarzen Furien in Griechenland. Medea, aber du kennst sie vermutlich nur als Tante Meg, wenn sich das nicht schon geändert hat. Und damit komm ich zu dem, was ich dir erzählen möchte:
Wer du bist, wer wir sind, was wir hier machen, wie du zu uns gekommen bist und so Dinge.
 
Ich wurde damals in Griechenland geboren, genauer gesagt auf der Insel Thira. Eine wunderschöne kleine Insel, herrliches Meer. Wenn man sich der Küste nähert, sieht man Fira, die Hauptstadt der Insel, auf den Klippen. In die Länge gezogen, ist die Stadt ein wahrhaftes Labyrinth. Völlig verwinkelt und voller mit Kalk geweißten Häusern, orthodoxen Kirchen mit blauen Kuppeln, Treppen, die in schmale Gasse münden, und unten, ganz unten, das unendliche Blau des Meeres mit am Hafen angelegten Yachten. Fahr mal hin, wenn wir nicht schon dort waren. Meine Familie wird dich sicher lieben und gern bei sich aufnehmen.

Später schloss ich mich den Furien um die Anführerin ‚Stolz der Mutter‘ an (ja, ich weiß, lustiger Name) und ging nach Tripolis. Ich verliebte mich, wurde schwanger, es war alles wunderschön. Doch mein Gefährte, ebenfalls Garou von den Schattenlords, starb im Kampf, als ich gerade im 7. Monat war. Schon die ganze Schwangerschaft lief nicht ganz rund, und der Schock war dann zuviel, ich verlor mein kleines Mädchen. Schlimmer noch, die Ärzte sagten mir, ich könne nie wieder schwanger werden, nie eigene Kinder bekommen. Und so fiel ich in tiefe Depressionen, versuchte mich umzubringen. Alles war hoffnungslos für mich.

Die Furien schickten mich dann nach Amerika. Sie hatten erfahren, das dort in einem Kinderheim ein Mädchen gelandet war, dessen Eltern starben. Das Mädchen gehörte so wie wir zu den Garou, und  ich sollte sie dort rausholen und zurück nach Griechenland bringen, wo man sich um sie kümmern würde. Also flog ich dort hin. Mein Kontaktmann war ein Kinfolk der Fianna, der mir half das ganze bürokratische und finanzielle zu regeln .. dein Pa. Naja, und was soll ich sagen, ich hab mich doch nochmal verliebt und er ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

Diese Fianna sind schon liebenswerte Chaoten und Charmeure, aber wenn du einen Rat willst .. lass dich nicht mit ihnen ein, es sei denn du bist mit einem dicken Knüppel bewaffnet, um den Kerl täglich mindestens einmal zur Räson zu rufen.  

Die Septe erlaubte mir, hier zu bleiben, und so heirateten wir. Wir suchten einen Ort, der friedlich ist und wunderschön, und kauften ein großes, abgelegenes Grundstück, und bauten ein Haus. Die Septe hatte uns Startkapital gegeben, denn ich wollte mich hier weiter um unsere verlorene Kinder kümmern und sie aus Heimen und anderen Familien holen. Dafür brauchten wir viel Platz und Ruhe.

Dein Pa war mit finanziellen Dingen sehr geschickt, und so konnte er das Kapital ordentlich vergrößern, und wir haben ein großes Haus gebaut, mit allem was für uns und die Kinder wichtig war. Und damit verbrachten wir die nächsten Jahre. Viele Kinder waren bei uns, manche nur Tage, andere auch mal Wochen oder Monate, und wir konnten dafür sorgen, dass sie dann zu Familien kamen, die ihnen mit ihren speziellen Talenten weiterhelfen konnten. Um die erste Wandlung so leicht wie möglich zu machen, du wirst wissen was ich meine.

Eines Tages stand dann meine Halbschwester vor der Tür. Medea war viel jünger als ich, erst vor kurzen hatte sie das erste mal gewandelt und war nun in Amerika, eines der Kinder abholen. Und sie war selbst schwanger und darüber total verzweifelt. Versteh das nicht falsch, sie freute sich auf dich, aber sie war noch sehr jung mit 17 und hatte panische Angst, alles falsch zu machen, so ganz allein. Und sie musste ja auch kämpfen und wollte für dich nur das allerbeste. Sie blieb dann bei uns und ich half ihr durch die Schwangerschaft, und die Geburt, und die ersten Monate. Du warst so ein goldiges, kleines Mädchen, einfach perfekt und wunderschön. Naja, okay, das behaupten wohl alle Mütter von ihren Kindern. Und auch wenn du nicht meine Tochter warst, so hab ich dich von der ersten Sekunde an geliebt als wärst du meine eigene. Wir haben uns sogar um deinen Namen gestritten. Deine Mutter wollte dich Artemis nennen, nach der Göttin des Mondes, Waldes und der Jagd, ich war für Gia, das griechische Wort für Gaia. Lustigerweise haben wir dich später dann nur noch Ciardha genannt, die Erfindung deines Pa’s, der immer so schmunzeln musste, wenn du ihn so finster schmollend angesehen hast, als wolltest du ihn fressen. Das konntest du wirklich gut. Du konntest aber auch schallend lachen, das man es im ganzen Haus gehört hat. Bevorzugt dann, wenn du was angestellt hattest .. wie zum Beispiel dich und Goldy in eine Schlammpackung zu matschen um dann auf deinem Teppich die Fußabdrücke zu bewundern .. und nebenbei im ganzen Haus, auf dem Boden an den Wänden...

Die Monate vergingen und du wurdest älter. Du warst schon immer sehr neugierig und wissbegierig, wolltest alles lernen, alles wissen. Und leider hat es dich sehr verwirrt, zwei Mütter zu haben. Medea war so oft es ging bei uns, es sei denn ein Auftrag rief sie fort. Sie wohnte in dem Zimmer neben dir, euer eigener, kleiner Bereich. Aber als sie merkte, dass du damit nicht klar kommst, es nicht verstehst, warum da zum einen deine Mutter war, und in der Zeit dazwischen dann ich deine Ma war, traf sie eine sehr schwere Entscheidung. Sie ging fort für längere Zeit, damit du sie vergessen solltest, und als sie zurück kam, war sie nur noch Tante Meg für dich. Wir haben dich dann adoptiert, einfach nur damit du rechtlich abgesichert bist, und wir keinen Streit mit den Behörden haben, wenn mal was ist.

Aber du musst es mir einfach glauben, sie hat dich unendlich geliebt! Bitte bitte glaube mir das. Wenn du dir Bilder aus der Zeit damals anschaust, wirst du sehen, das sie kaum noch lächelte und immer sehr ernst und verschlossen war, um ihren Schmerz zu verbergen. Oh gott, ich hoffe, du hast nicht die gleiche Angewohnheit! Du siehst ihr soo ähnlich. Ich glaub, ihr ähnelt euch später mal sehr. Falls du sie nie kennenlernst, wofür ich bete, das der Fall nicht eintritt, dann schau einfach in den Spiegel und lächel dich an ... es wird ihr lächeln sein.

Dein Pa arbeitet an der Börse, zeitweise auch mit Jo zusammen in seiner Kanzlei, als Experte für Finanzdinge. In seiner Freizeit liebt er Ausflüge mit uns, zum angeln oder wandern oder Radfahren, Sport ist ihm sehr wichtig. Und natürlich an seinem dummen alten Auto oder dem Motorrad zu basteln. Pfäh, überall Ölflecke, im ganzen Haus. Besonders wenn du in der Garage herumgetobt bist. Er hat mir einen Ausflug damit versprochen, wenn er je fertig wird. Und oft trifft er sich mit Jo und anderen Kinfolk und Garou oben im Besprechungszimmer, und sie planen gewisse Aktionen.  Ich muss immer zittern, wenn sie dann ein paar Stunden oder Tage manchmal verschwinden, um was auch immer zu jagen, und bin froh ihn dann unbeschadet oder nur leicht verbeult zurück zu bekommen.
Und was ich mach, nunja ... ich kümmer mich weiter um Kinder, offiziell als Sozialtherapeutin. Um verlorene Kinder aller Stämme, die irgendwie in Not geraten sind. Aber mein wichtigstes und liebtes Kind bist immer nur du, meine Kleine.
Diese Kinder machen wir in Pflegeheimen, Weisenhäusern und ähnlichen Einrichtungen ausfindig, und wenn wir uns sicher sind, das sie von unserem Blut sind, holen wir sie dort raus und oft müssen wir sie erstmal aufpäppeln. Dann schauen wir, wo ihre Interessen und Stärken liegen, und bringen sie zu Garoufamilien, oder auch manchmal in Ausbildungslager, je nachdem wie alt sie sind. Wo die Wandlung nicht mehr weit ist, sind solche Schulen natürlich sinnvoller, auch wenn das irgendwie blöd klingt. Aber sie sind da unter ihresgleichen und haben erfahrene Leute bei sich, die ihnen helfen. Die Kinder sollen ja lernen, was sie sind, um möglichst ohne Trauma den nächsten Schritt gehen zu können. Wobei, ohne Trauma ... was ich in diesen Einrichtungen und in so mancher Pflegefamilie sehe und erlebe, das mag man keinem erzählen. Erst vor ein paar Tagen hab ich dazu was in mein Tagebuch geschrieben. (*)

Außer den Kindern haben wir auch öfter Garou als Besucher, wenn mal einer einen Platz zum unterkriechen braucht, oder zum erholen. Du wirst dich sicher noch erinnern, wenn auch nur schwach. Wichtig ist uns einfach nur, dass es dir gut geht, und wir wollen dir alles ermöglichen, was nur geht. Schule, Universität .. wir sind uns sicher, dass du mal Anwältin wirst oder so etwas in der Richtung, so gerne wie du quasselst und die Leute tot argumentierst. Da hat man kaum eine Chance gegen anzukommen. Vielleicht raubst du aber auch irgendeinem Anführer den letzten Nerv, der das Glück hatte, dich in seinem Rudel zu haben .. du bist Neumond, es liegt dir im Blut die Leute um dich herum in den Wahnsinn zu reden. Wer weiß, vielleicht arbeitest du aber auch in Onkel Jo’s Kanzlei. John J. Canyon III. Du hast ihn immer nur Jo genannt, aber du mochtest ihn ganz gern. Eigentlich magst du fast jeden, der zu uns kommt.

Ganz anders als in der Schule, wo du immer nur Streit suschst. Da ist dir keine Herausforderung zu dämlich, um nicht mitzumachen. Ob es nun darum geht, die Feuermelder zu testen, oder an der Fahnenstange hochzuklettern und sich dabei in den Seilen zu verheddern. Na das war ein Feuerwehreinsatz, du warst wie eine kleine Katze auf einem Baum und wolltest dir nicht helfen lassen. Erst als dein Pa dir drohte, den Fahnenmast umzusägen, hast du aufgegeben .. und den Feuerwehrmann verkratzt. Und ständig prügelst du dich mit Jungs, die leider Gottes oft genug den kürzeren ziehen. Ich weiß gar nicht, wie viele Besuche bei der Rektorin deiner Schule ich absolvieren musste, ich glaub ich hab da meinen eigenen Stuhl.

So ein klein wenig bist du schon stressig, aber trotzdem meine liebe Kleine. Ich glaub nichts, was du anstellst, wird daran je etwas ändern. Merk dir das, wir lieben dich! Ganz sicher, immer, egal wo du bist, oder wo wir sind. Auch über den Tod hinaus.


Ich frage mich, was aus dir wohl geworden ist, wenn du diesen Brief bekommst. Ich werde ihn Jo geben und er soll ihn dir aushändigen, wenn du wohl 16 oder 17 bist, alt genug zu verstehen wovon ich rede. Da ich hoffe, dass bis dahin noch viele Jahre vergehen, werde ich wohl in gewissen Abständen noch weitere Briefe für dich schreiben. Ich hoffe, du wirst einen ganzen Stapel zu lesen bekommen, oder besser noch, du wirst sie nie zu lesen bekommen. Aber man weiß ja nie, welche Wege das Schicksal einschlägt, und deswegen sorge ich vor. Ebenso wie wir in allen rechtlichen Dingen vorsorgen, alles hier wird einmal dir gehören. Was du dann damit anfängst, ob du weiter Garou hier wohnen lässt, oder dich auch um Kinder kümmerst, oder vielleicht was ganz anderes machst, das ist dann dir überlassen. Ich bin mir sicher, du wirst die richtige Entscheidung treffen, du bist ein kluges Mädchen.

 

Es ist schon spät, und mir fällt nichts mehr ein. Ich werde morgen weiter schreiben. Jetzt kriegst du noch einen GuteNachtkuss, und ich werfe wohl zum 1000. mal den Hund aus deinem Bett, den du immer rein lässt obwohl ich das nicht möchte.
Träum schön, Gia, ich hab dich lieb.

 

MariTess -Ma




(*) Tagebucheintrag 14.Mai 1997:

Heute hab ich von einer Familie gehört, die bevorzugt schwer erziehbare Kinder nimmt und dann als Arbeitskräfte missbraucht irgendwo auf einer Farm. Sie adoptieren die Kinder wohl im Großraum New York und gleich nach der Adoption schaffen sie die Kinder in einen anderen Bundesstaat um die Verfolgung zu erschweren. Dort haben sie eine Farm oder Ranch oder sowas und lassen die Kinder die Arbeit machen.
Meinem Informanten zu Folge leben die Kinder dort unter unwürdigsen Umständen, in dunklen Schuppen und Kellerräumen, bekommen nur minderwertige und unzureichende Kost und werden selten in der Schule gesehen. Es ist sogar die Rede von körperlicher Gewalt, Prügel und Hungerstrafen, und von sexuellem Missbrauch. Die Inforamtionen kommen wohl von einem schwangeren Mädchen, das abgeschoben wurde, nachdem die Abtreibung fehlschlug und der Zustand nicht mehr zu verbergen war.
Ich mag garnicht dran denken wie es dort zugeht, da müssen doch alle Behörden blind und taub sein. Na, denen werd ich noch das Handwerk legen, und der Zicke vom Sozialamt auch, die da beide Augen zudrückt und die Hände dafür aufhält! Ich muss unbedingt mit Jo reden dewegen. Die räucher ich aus!!!

Ich hoffe nur, as ich meine Kleine vor so einem Schicksal immer bewahren kann.

*****

Tagebucheintrag vom 16.Mai 1997

Boah, ich schäume vor Wut! Hab diese Zicke mal wieder getroffen, die vom Jugendamt, die für Adoptionen zuständig ist. Es ging eigentlich um ein anderes Kind, aber da auch da was nicht ganz koscher lief, konnte ich mir nicht verkneiffen der Schachtel mal gehörig den Kopf zu waschen.
Sobald ich Jo erreiche wird der Laden da abgebrannt! Und wenn ich selbst ein Streichholz dranhalten muss.

Lieber an was schönes denken. Peter hat mich heute morgen überrascht und mir gesagt, das wir bald alle zusammen Urlaub machen in Griechenland. Ich freu mich auf die alte Heimat, ich will unbedingt Gia zeigen wo ich aufgewachsen bin.
Das erinnert mich dran, das ich ihr einen Brief schreiben will, der alles erklärt. Falls mal irgendwas passiert, man weiß ja nie. In letzter Zeit hab ich so oft Alpträume gehabt, das macht mich ganz unruhig.
Und wenn es wirklich so kommt, will ich das sie später wenigstens etwas von uns hat, Dinge weiß, die wir ihr jetzt noch nicht sagen können. Ich werd mich heute noch dransetzen .. ach nein, morgen, hab ja noch was vor heute. Oder eben so bald wie möglich.
Ich hoffe wirklich, der Fall wird nie eintreten.


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